Bündner Jugendschreibwettbewerb

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Für den 2022 das erste Mal durchgeführten Bündner Jugendschreibwettbewerb („Bündner Schreibbock“) haben 176 Jugendliche zwischen zwölf und sechzehn Jahren aus unserem Kanton ihre Kurzgeschichten zum vorgegebenen Thema „Spiel mit dem Feuer“ eingereicht. Die zehn von der Jury als die überzeugendsten ausgesuchten Beiträge sind nun im Verlag Flying Grandpa erschienen, darunter «Das Mädchen vom Schiff» von Malin Hoyle und «Feuer im Herzen» von Bigna Bruderer. Beide besuchen die Klasse G2a an der SAMD.

 

Das Mädchen vom Schiff (Malin Hoyle)

Mitternacht. In der Kajüte war es kalt und stickig, also entschied sich Jule, einen kleinen Rundgang über das Deck zu machen. Draussen schlug ihr die salzige Meeresluft ins Gesicht und sie stellte sich an die Reling. Diese war von Raureif überzogen und der Wind zerrte heftig an ihrem Mantel. Plötzlich flaute er ab und sie wurde unruhig, der Geruch von Meer und Algen mischte sich mit etwas anderem. Sie dachte darüber nach und entschied sich, es einfach zu ignorieren. Es waren wahrscheinlich nur die nassen Taue, die sie vorher durch die heftigen Sturmböen nicht hatte riechen können. Sie schlich sich zurück in ihre kleine Kajüte und liess sich von den Wellen in den Schlaf schaukeln. Sie träumte von der See, von wilden Ungeheuern, die drohten, sie mit allem um sie herum zu verschlingen. Und als das Monster der Tiefe sein Ekel von Schlund öffnete, roch sie einen beissend scharfen Geruch, etwas zwischen altem Fisch und Rauch. Mit einem Ruck wachte sie auf, dann wusste sie es - was sie vorher gerochen hatte, waren nicht etwa die nassen Taue gewesen, es war der Geruch einer Flamme gewesen. Sie war auf dem Deck nicht allein gewesen, irgendwer hatte hinter, neben oder ganz um sie herum gestanden. Ihr wurde flau. Sie stand auf, zog sich ihren dunklen Mantel über und schlich den Gang entlang zur Kajüte des Kapitäns. Aus einem Fenster heraus sah sie die helle Gischt vom Bug her sprühen. Ihr war jedoch nicht klar, dass die tausend Augen im Rauch der vermeintlichen Gischt sie bei jedem ihrer Schritte beobachteten, dass sie darüber loderten, sie und alle anderen zu verschlingen und dem tiefen Höllenschlund des Ungeheuers auszuliefern, draussen im unendlichen Schwarz der Nacht, wo sie nichts anderes als hilflose Puppen in der Gewalt des unendlich schwarzen Meeres waren.

Dann sah sie die Flammen. Die sonst doch so schön wirkenden Farben in einer Pracht von Orange, Gelb und tiefem Rot sahen nun grau und schwarz aus, bedrohend und lodernd, und doch gleissend hell. Es raubte ihr den Atem. Die Flammen waren von einer unglaublichen Schattierung, schon fast Kunst. Aber die Kunst war schrecklich, es war die Kunst des Todes, eines unglaublich qualvollen, schmerzhaften, langen Todes. Sie wollte schreien, um Hilfe beten, doch der Qualm verschluckte ihre schmerzvollen Schreie und der beklemmende Geruch des Feuers benebelte ihre Sinne. Sie hörte, wie um sie herum Panik ausbrach, Leute schrien um ihr Leben und mitten drin stand ein Mädchen, das nie mehr wieder, wenn es überhaupt überleben würde, einen Fuss auf ein Schiff setzen wollen würde. Das Mädchen rannte auf Jule zu, ihr Gesicht verbarg sich unter einem Schleier salziger Tränen und zwei kleine Zöpfe umrahmten das zarte Antlitz des Mädchens. Sie schien Jule auf Anhieb zu vertrauen, sie nahm Jules Hand und zog sie unter Deck. Jule schätzte es auf etwa zwei Jahre. Es war nicht in der Lage, ohne ihre Eltern zu leben, schoss es Jule durch den Kopf. Die Stimme einer Frau schrie laut und durchdringend, so dass es Jule fast das Herz brach, es war der Schrei einer im Feuer Sterbenden gewesen. Ganz plötzlich brach das Mädchen an ihrer Hand zusammen. Sie lag da, ein auf dem Boden zusammengerolltes Bündel voller Schmerz und Leid. Sie konnte nicht ohne ihre Mutter leben, aber sie musste.

10 Jahre später

An die kleine sandfarbene Katze geschmiegt, wachte das Mädchen auf, streckte sich aus und stand auf. Die Sonne schickte warme Frühlingsstrahlen über das Gras und es war herrlich ruhig. Im Schatten eines Hauses stand ein Mann, er war in einen schwarzen Mantel gehüllt und blickte sie an. Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, dann drehte sie sich um und hob ihren Seesack auf. Als sie wieder zum Haus blickte, war er verschwunden. Hinter ihr maunzte die kleine Katze neugierig, sie leckte sich einmal über ihre samtige Pfote und lief zielstrebig auf die Stelle zu, wo der Herr im Mantel gerade eben noch gestanden hatte. Nur aus Neugier folgte das Mädchen ihr, allerdings mit sicherem Abstand, da sie nicht wusste, ob der Mann gefährlich war. Als sie bei dem roten kleinen Backsteinhaus ankam, lag ein Zettel auf dem Boden. Er war mit krakeliger Schrift beschrieben und roch seltsam vertraut.

Ein erschreckender Gedanke kam ihr, als sie sich verträumt über das Kinn strich. Sie hatte den Blick mit dem Herrn so lange gehalten, weil der Blick eine Botschaft enthielt, weil er sie rief - wenn sie es sich genau überlegte, fesselte sie der Blick. Aber nicht in einem bösen Sinne, sondern wie eine Umarmung. Er hielt einen fest, so dass man sich nicht abwenden konnte oder mochte, aber er hielt einen auch geborgen und in Sicherheit. Der Mann war nicht böse, er war nicht gefährlich, aber was war er dann? Die Botschaft in seinem Blick war eine Warnung gewesen. Doch wovor bloss? Vor wem? War es eine Warnung vor der Zukunft oder eine Warnung, die in der Vergangenheit gegeben hätte werden sollen? In ihrem Kopf schwebten tausend Fragen, wie Ameisen rannten sie umher, in einem grossen Chaos, und doch gab es irgendwo eine Struktur. Die Struktur war jedoch unbeendet. Jede Ameise rannte ihrer Arbeit nach, ohne zu wissen, welcher Arbeit sie eigentlich nachrannte, ohne zu wissen, wozu sie das tat, warum sie das tat. Das fragte sich auch das Mädchen. Wozu war sie zu diesem Mann gegangen? Sie kannte ihn nicht, und irgendwie auch schon, würde sie ihn wieder sehen, könnte er ihre Fragen beantworten oder würde er sie noch tiefer in das Chaos hineinziehen, war nun der Zeitpunkt auszusteigen? Und wenn sie es nicht tat, wäre es danach zu spät? Sie blickte auf den Zettel hinab und merkte, es war keine Schrift, es waren Flammen, gefährliche und lodernde Flammen. Dieser Blick, es war eine erneute Warnung vor dem Feuer gewesen. Sie stand auf und rannte los. Sie rannte lange und schnell, ihre Muskeln brannten vor Schmerz, und ihr Herz zerbarst fast bei dem Gedanken daran, was Jule ihr in dieser Nacht gesagt hatte:

Dein Herz gebar in der Flamme,

im Angesicht zu dir wurde ihm bange,

sein Herz zerbarst, sein Gesicht wurde hart,

sie rannte davon…

Den Rest hatte sie nicht mehr hören können, als der Schuppen im Feuer vor drei Jahren über Jule zusammenbrach. Damals hatte sie zum zweiten Mal ihre wichtigste Bezugsperson verloren, die Person, die sie aufgezogen hatte. Zu spät sah sie, dass Jule von einem Zettel in ihrer Hand ablas. Aber als sie sich an die krakelige Schrift erinnerte, welche in jener Nacht im Feuer verbrannt war, brach sie zusammen. Es war die selbe krakelige Schrift gewesen, welche sie in der Flamme auf dem Zettel gesehen hatte, es war die Schrift des Mannes gewesen.

Als sie wieder zu sich kam, spürte sie eine warme Hand auf ihrer Schulter. Die Hand fühlte sich hart und kantig an, und ein warmer Mantel legte sich über ihr Gesicht. Sie blickte hoffnungsvoll auf, und sah in das Gesicht ihres Vaters. Das scharf geschnittene Gesicht, der geborgene Blick, die langen Finger, die Schrift auf den Zetteln, alles stimmte mit dem Bild und dem Brief in ihrem Amulett überein. Der Mann im Mantel, er war ihr Vater, er hatte eine grosse Brandwunde im Gesicht, aber er hatte überlebt, ihm war die Flucht gelungen. Er trug sie nach Hause. Das Zuhause war ein kleines gelbes Haus mit gemütlicher Einrichtung und warmem Licht. Als er seinen Mantel auszog, sah sie ein Amulett an seinem Hals, es war identisch mit ihrem, nur dass seines ein geschwungenes S eingraviert hatte und ihres ein I. Er öffnete das Fenster und liess die Katze herein, und als das Mädchen sie rief, schaute ihr Vater sie an.

«Ivy ist dein Name», sagte er, und endlich, endlich hatte auch das Mädchen einen Namen.

Liebevoll blickte er sie an, und Ivy fühlte sich zum ersten Mal zuhause.

 

Feuer im Herzen (Bigna Bruderer)

 

Das Feuerwerk ist heute Nacht besonders schön. Es leuchtet unglaublich hell, genau wie die Flamme. Meine Flamme. Vor einigen Minuten ist die Polizei angekommen. Ich konnte sie unten auf der Straße kommen sehen. Als wäre ich eine Schwerverbrecherin. Vielleicht bin ich das auch. Dann haben die Uniformierten an der Tür geklingelt und zu meinem Bruder gesagt, sie müssten mich nun abholen. Er hat erwidert, ich brauche noch etwas Zeit. Da das ganze Haus umstellt ist und ich sowieso keine Fluchtmöglichkeit habe, liessen sie mir diese Zeit. Ich sitze auf dem Balkongeländer. Die Menschen unten auf der Strasse jubeln laut. Es ist nun so weit. Das neue Jahr hat begonnen. Das bedeutet, dass es Zeit für mich ist zu gehen. Ich erhebe mich langsam in dem Versuch, nicht herunterzufallen. Wenn ich gehe, dann werde ich in einem wunderschönen Sprung gehen, nicht in einem Ausrutscher auf dem Geländer. Ich hole tief Luft und katapultiere mich hoch in die Luft, wie beim Kopfsprung ins Wasser.

 

«Komm schon! Es ist sehr angenehm, du musst es nur wagen!»

Sofie stand hinter mir und versuchte vorsichtig, mich in das Becken im Hallenbad zu bugsieren. Ich wehrte mich. Sofie war von meinen Eltern angestellt worden, damit sie mir half, meine Angst vor dem Wasser zu überwinden. Sie hatte kläglich versagt, genau wie alle anderen, die meine Eltern angestellt hatten. Ich hatte Wasser schon immer gehasst und die einzige Erklärung, die ich dafür abgegeben hatte, war immer ein Satz gewesen: «Das Wasser löscht mein Feuer.» Ein Satz, dem keiner einen grossen Sinn abgewinnen konnte.

Ich höre die Menschen unten auf der Strasse schreien. Ich frage mich, warum sie das tun. Ich weiss, dass sie es nicht in Sorge um mich tun; ich bin nur ein weiterer entbehrlicher Mensch dieser Welt. Wer weiss, vielleicht hätte ich sogar einen von ihnen getötet, wenn ich weitergelebt hätte? Nein, ich weiss, dass sie nicht in Sorge um mich schreien. Das hat in meinem ganzen Leben nur ein Mensch gemacht.

An diesem Abend hatte das Feuer im Kamin besonders hell gebrannt. Mein Dad war mit meinem Bruder im Kino gewesen und ich war mit meiner Mutter allein zuhause. Sie war im oberen Stock. Ich hatte das Feuer angestarrt. Es war wunderschön. Dann hatte ich langsam die Hand ausgestreckt und zugeschaut, wie es mich verbrannte. Natürlich hatte es geschmerzt, aber es war auch ein gutes Gefühl gewesen. Als würde ein fremdes Feuer mein eigenes Feuer höher brennen lassen. Ich fühlte mich lebendig wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte meine Mutter nicht kommen hören, aber auf einmal schrie sie auf und zog meine Hand aus dem Feuer. Mutter kühlte meine Hand in Wasser und kümmerte sich um mich. Sie hatte mich immer geliebt, nicht wie mein Vater. Eigentlich war es schon fast schade, dass sie gehen musste.

Unser Haus brannte schön, schöner als alle anderen Häuser. Ich wusste damals nicht, wieso ich es anzündete, und ich weiß es immer noch nicht. Ich fragte mich, ob unser Haus wohl schön brennen würde, also hatte ich eine Kerze an den Vorhang gehalten. Ich hatte geplant, im Haus zu bleiben und das Feuer selbst zu spüren, aber mein Bruder hatte mich nach draussen gezerrt. Dann ging er wieder hinein, um nach meinen Eltern zu sehen. Die Feuerwehrleute haben ihn wieder rausgeholt, aber meine Eltern nicht. Niemand wusste, dass ich das Haus in Flammen gesetzt hatte. Aber als ich den Flammen zugesehen hatte, hatte ich mich lebendig gefühlt, genau wie damals, als meine Hand gebrannt hatte. Danach zündete ich noch viele Häuser an. Es fühlte sich einfach gut an.

Ich denke an meinen Bruder, der unten an der Tür steht und die Polizisten aufgehalten hat. Er hat sich immer um mich gekümmert. Was für ein guter Mensch er doch ist. Es tut mir ehrlich leid für ihn, dass er eine Schwester wie mich hat. Er hätte eine nette und süsse Schwester verdient. Eine, die ihr Leben mögen würde. Eine, die glücklich mit ihrer Familie zusammenleben und schliesslich mit achtzig Jahren glücklich und zufrieden sterben würde. Nicht so eine wie mich. Eigentlich sollte er mich verabscheuen oder Angst vor mir haben, so wie die meisten anderen. Ich habe meine eigenen Eltern getötet und viele andere Menschen, deren Namen ich nicht weiss. Ich bin verrückt. Aber er liebt mich. Er hat heute Nachmittag noch versucht, mich umzustimmen. Er sagte, ich solle fliehen, mich verstecken. Oder einfach zulassen, dass die Polizisten mich festnehmen. Auch ein Leben im Gefängnis sei etwas wert, hat er gesagt, und irgendwann würde ich ja wieder herauskommen. Aber mein Leben ist mir nun mal nichts wert. Es ist nichts weiter als eine Flamme, die sich von meinem Körper ernährt. Irgendwann muss sie erlöschen, und vielleicht ist es besser, wenn sie es jetzt tut. Wenn sie in einem Feuerwerk untergeht, genau wie die Sterne. Ja, so möchte ich sterben. Wie die Sterne.

Eigentlich wollte ich nicht so gehen. Ich hatte geplant, das Haus anzuzünden und in einer hellen Flamme zu gehen. Aber die Chance zu überleben war einfach zu gross. Ich starre das Feuerwerk an. Es ist die schönste Art von Feuer, weil es so bunt ist. Aber es ist auch die traurigste Art. Es ist weit entfernt von mir und kalt. Es erwärmt meine Seele nicht, sondern lässt diese kalt und leer zurück. Ich wäre gern dort oben. Zwischen den leuchtenden bunten Flammen und den Sternen nah.

Mutter hat immer Geschichten von den Sternen erzählt. Sie sagte, wenn wir im Leben Gutes tun, dann kommen wir zu ihnen. Zu dem grossen gnädigen Herrn im Himmel, der auf uns aufpasst. Ich glaube nicht, dass er existiert, und wenn doch, dann glaube ich nicht, dass er gnädig ist. Er hat meine Familie mit einem Kind wie mich verflucht. Ein Kind, das seine eigenen Eltern verbrannt hat. Und nun lässt es seinen Bruder zurück, allein in dieser hässlichen, dunklen Welt. Vielleicht sind meine Eltern dort oben. Bei den Sternen. Schauen mir gerade zu. Sie sind bestimmt enttäuscht von mir, dass ich nicht zu ihnen nach oben in die Sterne komme. Dass ich so ein Monster bin.

Ich hoffe, wenn die Flamme erloschen ist, kommt nichts Neues. Ich bin müde. Ich möchte nur schlafen.

Und dann schlage ich auf. Ich fühle nichts, keinen Schmerz und keine Angst. Aber ich fühle, wie meine Flamme flackert und zittert, als würde ein starker Wind wehen. Ich schaue ein letztes Mal das Feuerwerk an. Eine rote Blume aus Feuer explodiert am Himmel und erwärmt mein Herz. Ich lache. Und die Flamme erlischt.

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