Erziehung zur Autonomie

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Gerne nehmen Gymnasien für sich in Anspruch, die SAMD eingeschlossen, ihre Schülerinnen und Schüler zu selbstbestimmten Erwachsenen erziehen zu wollen. Und dann pferchen wir sie am Ende von zwölf Schuljahren in einen Saal, in dem alle in der gleichen Zeit die gleichen Aufgaben lösen müssen, um daraufhin in ein minimalistisches Beurteilungsraster von 1-6 eingeordnet zu werden.

Mit kaum einem anderen Begriff ist so viel Widersprüchliches verbunden wie mit dem der Autonomie, man denke nur an das viel zitierte autonome Fahren eines Autos. Ein Mensch, der zur Autonomie erzogen worden wäre, verhielte sich genauso wenig autonom wie das sich angeblich selbst steuernde Auto. Die Autonomie des Menschen müsste eine Grundvoraussetzung sein, die gegeben ist und nicht anerzogen oder programmiert.

Wenn nun der Mensch schon von sich aus autonom wäre und die Erziehung zur Autonomie darin bestünde, alle fremden Einflüsse von ihm fernzuhalten, würde man in der nächsten Paradoxie landen. Denn der Mensch entwickelt sich nur in der Auseinandersetzung mit seinem sozialen Umfeld, ohne das er nicht existieren kann.

Auch die Hoffnung, den Jugendlichen zu befähigen, die eigenen Bedürfnisse mit denen der Umwelt in Einklang bringen zu können, erweist sich als Illusion. Denn dafür müsste der betreffende Mensch wissen, wer er ist. Durch seine soziale Anpassungsfähigkeit entwickelt er aber genau die Fähigkeit, seine Identität entsprechend der aktuellen Situation und dem Umfeld zu verändern. Menschen mit einer unveränderbaren Identität sind ein Fall für die Psychiatrie.

Trotzdem ist die Erziehung zur Autonomie nicht bloss ein Werbegag. Sie muss sich aber in der pädagogischen Wirklichkeit in jeder Situation aufs Neue vollziehen:

  •  Pädagogische Massnahmen und Prozesse müssen dafür ergebnisoffen angelegt sein, mit der Überzeugung, dass Veränderungen möglich sind.
  • Sender und Empfänger in der erzieherischen Kommunikation dürfen nicht festgelegt sein und sollten jederzeit wechseln können.
  • Die Bewältigung erzieherischer Prozesse muss konstruktive und kooperative Lösungen erbringen.

In diesem Sinne sind die Maturaprüfungen natürlich kein Nachweis der gelungenen Erziehung zur Autonomie, eher das Gegenteil.

Entscheidend ist aber, dass die jungen Erwachsenen, die in diesen Prüfungen sitzen, in den zwölf Jahren Schule möglichst viele der oben beschriebenen pädagogischen Erfahrungen machen konnten. Dann nehmen sie die Überzeugung mit, dass sie sich und die Welt verändern können und erfahren sich als einzigartigen und freien Menschen; trotz der vielen Verpflichtungen und Aufgaben, die sie erfüllen müssen.

 

Gundolf Bauer, Internatsleiter, Juni 2022

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